Glaube, Andacht und Pflicht
Du sollst nicht Falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten
Vor den Richter hintreten und dem Nächsten ein Verbrechen andichten, an das seine Seele nicht gedacht hat, oder gegen ihn zu Gunsten eines Schurken aussagen, der ihn um seine Habe bringen will — nicht wahr, das ist schrecklich? davon weißt du dich frei und rein?
Aber nicht bloß der ist Richter, der von Staatswegen über Verbrechen oder über Mein und Dein zu entscheiden hat, sondern jeglicher, der ein Urteil fällt über den Nächsten, und wir alle bestimmen es täglich, indem wir Zeugnis ablegen über das höchste Gut desselben: seine Ehre und seinen Ruf.
Wenn du in der Gesellschaft über eine Person befragt wirst, trittst du nicht antwortend als ihr Richter auf? Und hast du dann immer getan, was das Gewissen verlangt, ehe du urteilst: genau zu prüfen und zu untersuchen (5. Buch Mose 19, 18)? — O wie viele falsche Zeugnisse magst du schon gegeben haben, wenn du einseitig und leichthin über den einen redetest, dessen Wesen deiner Eigentümlichkeit nicht zusagte, wenn du unbedacht den Stab brachst über den andern, der wohl manchen Fehl und Irrtum mag begangen haben, der aber doch beziehungsweise gut und wacker sich führte!
Doch du meinst, nur das falsche Zeugnis vor dem wirklichen Richter sei von Wichtigkeit; denn es vermöge Unheil und Ungemach über den Unschuldigen zu bringen, jedes andre hingegen sei gefahrlos.
Hass du schon die Tragweite bemessen, die ein Wort der Verleumdung, der unbedachten üblen Nachrede gehabt hat? Hast du erkundet, wie viel Misstrauen gegen den Gerechten, wie viel Verdacht gegen den Reinen es verursacht hat? Hast du schon die Verluste gezählt, welche dem redlichen Geschäftsmann, die Nachteile, welche dem gewissenhaften Arbeiter, das Weh und die Kränkung, welche dem gefühlvollen Herzen daraus erwuchsen?
Darum »hüte deine Zunge vor Verleumdung« (Psalm 34, 14), die wie »ein mörderischer Pfeil« (Jeremia 9, 8) Verderben bringt und »verbreite nicht ein leeres Gerücht« (2. Buch Mose 23, 1), welches mit Gefahren für den Unschuldigen umherschleicht. Halte deinen Mund rein und sprich für den Redlichen, dass dein Wort Segen wirke, die Gerechtigkeit und der Friede sich mehre, dass du »Heilung bringst und nicht Dolchstiche«, Versöhnung und nicht gehässige Feindschaft.
Das Vorurteil
Du wirst vielleicht schon manchmal die Bemerkung gemacht haben, wie du dem oder jenem Unrecht Tatest, indem du ihn zwar nicht geradezu angriffst oder verleumdetest, ihm aber ohne rechten Grund deine Achtung, deine Teilnahme, deinen Beistand versagtest. Du konntest selbst keine gültigen Anhaltspunkte für dein Benehmen gegen ihn, für die Kälte und Gleichgültigkeit, mit der du seine Person behandeltest, auffinden und angeben; denn es war nur eine unbestimmte Meinung, die dich dazu verleitet hatte, die sich jedoch nachträglich zu deiner Neue und Beschämung als ungerechtfertigt herausstellte. Du hattest dir entweder in Folge seines Äußern oder in Folge seines Standes, seines Glaubens und so weiter ein ungünstiges Urteil über ihn zurecht gelegt.
Ein anderes Mal geschah das Gegenteil, dass du ohne Grund eine besondere Vorliebe für Jemand fasstest, die er bei näherer Kenntnis nicht verdiente.
In beiden Fällen war es ein Vorurteil, von welchem du dich irre führen ließest.
Hüte dich vor diesem Fehler und seinen Folgen; denn es ist nicht bloß ein Fehler der Einsicht, der dir Schaden bringt, sondern auch eine sittliche Schwäche und Schlaffheit, aus welcher die Ungerechtigkeit erwächst.
Gott hat den Menschen verschieden nach Bildung des Körpers und des Geistes geschaffen; auch Stand und Manieren, Glaube und Überzeugungen sind ihm durch Verhältnisse geworden, über die meist ohne sein Zutun das Geschick verfügte. Seinen wert jedoch bestimmt einzig, was er durch die Macht des eignen freien Willens, durch Arbeit an sich und durch menschenfreundliches Streben für Andre geworden.
Halte daher keine äußere ungünstige Erscheinung, keinen Stand, keinen Glauben und kein Verhältnis für sich allein so maßgebend, dass du darnach von vornherein über Würdigkeit und Unwürdigkeit absprächest.
Bewahre dir dein Urteil über Menschen wie über Zustände frei, bis du es wohl geprüft und erwogen fällen kannst; besonders aber hüte dich Jemand zu verachten, dessen innere sittliche Beschaffenheit du nicht ergründet hast.