Glaube, Andacht und Pflicht
Du sollst nicht stehlen
Dass du weder offen rauben noch im Geheimen entwenden darfst, dass Trug und Täuschung, wodurch das Eigentum des Nächsten geschmälert wird, dir verboten sind, das verkünden dir die Landesgesetze deutlich genug. Auch erinnerst du dich der Schriftworte, welche Fluch aussprechen über den, der des Nachbars Grenze verrückt, der falsches Maß und Gewicht anwendet, der Anvertrautes ableugnet, Gestohlenes verhehlt oder sonst in einer Weise das Gut des Nebenmenschen freventlich antastet.
Gehe aber tiefer in den Sinn dieses Gebotes ein und es wird sich dir noch Höheres erschließen.
Gott selbst hat gewollt, dass der Mensch nach Eigentum ringe und das Errungene sein nenne; denn alle menschliche Tatkraft, alle Förderung in Kunst und Gewerbe, alle Erfindung und Verbesserung des Heilsamen und Nützlichen, das der ganzen Menschheit zugute kommt, alle Fortschritte der Kultur und alle Erleichterungen des Lebens, sind hauptsächlich dem Streben nach Eigentum und der Freude an ihrem Besitz zu verdanken und würden ohne diese Mächte wesentlich gehemmt sein.
Darum soll dir das Eigentum als ein Heiliges erscheinen, das höheren und bleibenden Zwecken dient, als den Vorzug des augenblicklichen Besitzers zu bilden; du sollst in ihm die Grundlage erblicken, auf welcher sich der Bau der tätigen Menschheit erhebt, den Boden, aus welchem sich ihre gottverliehenen Kräfte und Gaben fort und fort entwickeln. Indem der Dieb ohne Mühe und Arbeit zu den Gütern gelangen will, welche erst durch Anwendung und Übung jener Fähigkeiten erreicht werden sollen, frevelt er nicht nur gegen die Gesellschaft, deren Sicherheit er untergräbt, sondern auch gegen das große Ausgleichungsgesetz des Schöpfers. Nach diesem Gesetz soll jeder bei dem allgemeinen Austausch so viel von irgend einer Art geistiger oder irdischer Güter einsehen, als er von einer andern Art empfängt, wodurch das Getriebe der Welt erhalten und alle schlummernden Kräfte geweckt werden.
Prüfe nun, ob nicht dieser Sinn auch dich zuweilen beherrsche, dass du zu nehmen geneigt bist, wo du nichts geben möchtest, zu ernten, wo Andre gesät haben. Fliehe diesen Sinn, denn er ist der Erzeuger aller Eingriffe in fremdes Eigentum, so verschiedenartig diese sein mögen. Wolle nicht genießen, ohne zu leisten; sondern fühle dich allzeit als ein Glied in der großen Kette der Menschheit, die durch Recht und Liebe zusammenhält, durch Recht, welches dir auf dieser Seite geboten wird, dass du auf jener die Liebe darbringst.
Armut und Reichtum
Glaube nicht, dass an die Armut das Unglück geheftet und dass sie vom göttlichen Zorn als Strafe über dich verhängt sei.
Auch die Armut hat ihren Segen und für so Manchen ist sie eine bessere und erfolgreichere Anregerin zum Guten als der Reichtum.
Wenn deine menschliche Bestimmung darin besteht, dass du alle edleren Anlagen in dir zur größten Vollkommenheit ausbildest, dass du nach Weisheit strebst, nach Tugend und strengster Pflichterfüllung, so kannst du gar oft die Stimme der Armut vernehmen, wie sie auf dich eindringt, um dich zu diesem Ziele zu führen. Mit ihren mancherlei Verlegenheiten ruft sie dich auf, nach den Hilfsquellen der Weisheit auszuschauen, mit dem Machtgebote des Bedürfnisses zwingt sie dich, nicht dem Belieben und der Bequemlichkeit, sondern der Notwendigkeit des Erwerbs und der angestrengten Tätigkeit für dich und deine Angehörigen zu folgen. Hiermit erfüllt sie, was deine eigenste Natur, was vielleicht die Stimme der Vernunft und des Gewissens nicht vermocht hätte. Sie führt dich auf die Bahnen des Geziemenden und Pflichtmäßigen, sie drängt dich zur Erweiterung deiner Kenntnisse und Einsichten.
Also nicht Verdruss und Verstimmung gebührt bei der Armut, sondern froher Gehorsam gegen ihre kräfteweckenden Anregungen.
Andrerseits glaube aber auch nicht, mit dem Reichtum jeder Sorge überhoben zu sein; sondern hüte dich vor zwei gefährlichen Klippen, an denen die Fahrzeuge seines Glückes scheitern, dem Geiz und der Verschwendung.
Der Geizige muss unter Schätzen alle Qualen des Mangels tragen, Kummer und Entbehrung, heftet sich selbst die hässlichen Flecken an, denen der Besitzlose durch seine traurige Lage ausgesetzt ist, den Neid und die Missgunst, und beraubt sich des menschlichsten aller Gefühle, des Mitleids.
Den Verschwenderischen hingegen treibt es in ewigem Kreislauf »von Begierde zu Genuss und von Genuss zu Begierde;« wie von bösen Geistern gejagt eilt er rastlos der Dürftigkeit zu, die gerade ihm am unerträglichsten werden muss da er nicht selbst zu erstreben, sondern nur Erstrebtes zu vergeuden gewöhnt ist und elend und verzweifelt kommt er zur Selbstbesinnung erst, wenn es zu spät ist.
Zwischen diesen beiden Klippen hindurch führt die heilsame Bahn des Reichtums, auf welcher dem Träger desselben das würdig heitere Los der Zufriedenheit und des wahrhaften Menschenadels in Einsicht und Gesinnung zu Teil wird, denen aber, die in seine Nähe kommen, die Sonne des Trostes, des Beistands und der Beglückung scheint.