Glaube, Andacht und Pflicht
Du sollst nicht Gelüste tragen
Die böse Begierde von vornherein nicht aufkommen zu lassen oder sie sofort nach ihrem Entstehen zu unterdrücken ist viel schwerer als nur die entsprechende böse Tat zurückzuhalten. Den Meineid unausgesprochen zu lassen, dem Nebenmenschen Leben und Eigentum nicht mit frevlerischer Hand zu rauben, dem Fuße vor dem Heiligtum der Ehe Stillstand zu gebieten — alles dies mag wohl als Beweis gelten, dass man dem Verbrechen aus dem Wege zu gehen und die Leidenschaft noch zu bewältigen weiß; aber es ist damit nichts Rühmliches geleistet.
Erst wer von sich sagen kann, dass er jegliches Gelüste nach dem Verbotenen in sich überwunden, dass er jeden Stachel des Neides und der Missgunst aus seinem Herzen gerissen, dass ihn nie mehr die Lust nach dem Gute des Bruders anficht, dass ihn der Reichtum, der rings um sein bescheidenes Dasein die Speicher des Überflusses öffnet, unberührt lässt, ist eingeweiht in die schöne Kunst der Sittlichkeit und verdient unsre Anerkennung.
Willst du jedoch die höchste Staffel und mit ihr die Krone der Weisheit erreichen, so gehe noch einen Schritt weiter, meide nicht nur die böse Begierde, sondern übe auch die entgegenstehende Pflicht: gönne dem Nebenmenschen sein Lebensglück, freue dich mit seinen Erfolgen, lerne sie mit den Augen der Liebe betrachten und fühle dich selbst gehoben, wenn das Verdienst hinaufgetragen wird auf die Höhen der Ehre und des Lohnes.
Erst durch solches Verfahren gelangst du zu dem erhabenen Ziele, wo Glück und Tugend zugleich, von dir selbst geschaffen, dich allzeit begleiten.
Das Glück strömt dir zu; denn in deinem Herzen wohnt tiefe Zufriedenheit, jedes fremde Wohlbefinden wird zu deinem eigenen, alle Lust und Freude, die du um dich herum gewahrst, dient dir selbst zur frohen Genugtuung und so genießest du überall mit, wo Andre genießen, vervielfältigst durch Mitgefühl deine Lebenswonnen, wo der Neid sie sich verringert und verkümmert.
Und jede Tugend wird dir eigen; denn wenn du mit den Andern dich freust, da es ihnen wohlergeht, wirst du sicher auch Mitleid empfinden, wenn das Unglück sie trifft, Mitleid, welches nicht beim bloßen Gefühl es bewenden lässt, sondern tätig eingreift, dass die Trauer sich in Freude wandle, dass der Arme Unterstützung, der Betrübte Trost und der Geplagte Erleichterung finde. Du wirst dienstfertig und hilfreich, leutselig und opfermutig sein; denn was du Andern Gutes bereitest, es gehört ja alles auch dir, bildet dein eigenes Wohl.
Wer also das letzte der »zehn Gebote« zu erfüllen versteht, wird sie alle zu üben wissen, wird selbst gesegnet sein und »zum Segen werden« den Andern.
Ergebung im Unglück
Wie kann ich aber, so fragst du, Liebe und Zufriedenheit bewahren bei der Bosheit der Menschen um mich her und bei dem Missgeschick, das mich selbst, den Unschuldigen, trifft?
Sorge nur für zwei Dinge und du wirst auch diese schwerste Forderung erfüllen.
Erhalte und pflege in dir den Glauben an eine liebreiche Vorsehung und verfahre so, dass das Bewusstsein redlicher Pflichterfüllung dir nimmer fehle. Von diesen zwei Sternen begleitet wirst du auch in der einsamen Nacht der schwersten Unglücksfälle dich geborgen wissen und nicht ohne Tröstung verbleiben, wenn auch die Menschen mit ihrem Undank dich kränken oder in ihrer Gleichgültigkeit dich schnöde verlassen.
Vielmehr erhebt sich dann mit doppelter Stärke in deinem Innern die Stimme des allgegenwärtigen Gottes, der in allem Elend und in aller Trübsal dir nahe geblieben.
Und diese Stimme bringt Linderung deinem Leiden, Heilung deiner kranken Seele; müsstest du ohne ihren Ruf verzweifeln, so kehrt mit ihrem lieblichen Schalle Ergebung in dein Gemüt.
Ergebung ist etwas ganz Anderes als kaltes und widerwilliges Entsagen, wo wir die Gewährung der sehnsüchtigen Herzenswünsche und der innigen Bitten uns verwehrt sehen; sie ist vielmehr wohltuendes und warmes Einverständnis mit einem höheren und weiseren Plan, vertrautes Eingehen in den Willen des Allgütigen.
Indem die Ergebung selbst in den Schmerzen, welche der Nächste ihr bereitet, und in den Wunden, welche das Geschick ihr schlägt, vertrauensvoll die Beförderungsmittel des eignen Besten erkennt, wird sie schon dadurch uns zum Segen. Denn sie bewahrt uns vor dem Hass gegen die Nebenmenschen, der oft in Ungerechtigkeiten ausartet, und erhält in uns wach die Freudigkeit des Wirkens und den Mut zur guten Tat, welche immer die Zeichen des wahren Glückes sind.