Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Das Wochenfest

Der Mensch ist das erhabenste Wesen der Schöpfung! sagen wir oft mit Stolz und danken Gott, dass er uns Macht gegeben hat über alle seine Geschöpfe und Schätze auf Erden.

Doch was ist es, das uns mächtiger macht als den gewaltigen Stier, mächtiger als den riesigen Elefanten. Was ist es, das uns über die Naturkräfte siegen lässt und unser Leben täglich an Erfindungen und Entdeckungen bereichert?

Es ist nicht die Kraft des Körpers, der hilflos geboren wird und sich, gestützt am Gängelband der Erzieher, entwickeln muss, es ist nicht die Allgewalt der Sinne, denn das Tier ist mit schärferen Sinnen begabt, als wir selbst, sondern es ist der Strahl des Gotteslichtes, die Macht der Vernunft, die Kraft der Wahrheit, die uns von dem allliebenden Weltengeist eingehaucht ward, es ist die Offenbarung der heiligen Gesetze in der Natur und in der Menschenbrust, die uns zum Herrn der Erdenwelt erhebt, ja die uns selbst bis in die Unendlichkeit unsre Gedanken führen lässt. Doch dies Menschengeschlecht ist ein großes Ganze, wie der einzelne Mensch ein Ganzes, ein vollendetes Geschöpf Gottes ist und wie der Einzelne dem Leben seine Schätze abringen und sich allmählich entwickeln muss, so ist auch die Menschheit von Uranfang schwach und unwissend gewesen und hat erst im Laufe der Zeiten an Erkenntnis und Wahrheit, an Macht und Vollkommenheit gewonnen. Die Menschen fragten nicht immer nach dem, der sie geschaffen und wenn der dunkle Trieb nach Einigung mit Gott sie zur Anbetung führte, so waren es Gegenstände, die sie mit Augen sehen, mit Händen greifen, mit Ohren hören konnten, in welchen sie göttliche Wesen verehrten. Die Sonne, das Feuer, das Wasser waren ihre Gottheiten und führten sie zu Irrglauben und zu trüglichen Bildern. Da senkte Gott in die Seelen einzelner Menschen den Strahl der Wahrheit, der endlich in dem Geiste Moses zündete, als er sein Volk vom Sklavenjoche befreit hatte. Von dem alltäglichen Gewirr und Treiben zog er sich zurück, überließ seinem Bruder Aaron die Volksführung und lebte allein dem innigen Verlangen Gott zu erkennen, bis ihm die höchsten Wahrheiten offenbar wurden, die er in den zehn Worten vom Sinai herabbrachte, als herrlichste Frucht seiner göttlichen Botschaft! Wohl ward sein Herz von Jammer zerrissen, als er sah, wie tief sein Volk gesunken sei, wie unfähig die herrliche Gotteslehre in sich aufzunehmen! Aber er zagte nicht, das Bewusstsein lebte in ihm: seine Sendung müsse erfüllt, die Wahrheit endlich errungen werden! Noch einmal prüfte er das Volk und bereitete es auf das herrliche Wunder vor, das an ihnen geschehen sollte: Nämlich, dass dem geringsten Volk das Sittengesetz für das Leben der Menschheit anvertraut werden sollte — und als er sie reuig fand, von alten Irrtümern abzulassen und sich zu reinigen um Gott in der Wahrheit zu suchen, da gab er ihnen das flammende Wort, das uns noch heute voran leuchtet auf allen Lebenswegen!

Die zehn Gebote sind der Grundstein jeder Religion und jeder Kirche. — Unsre Väter aber, welche die Lehre in allen Kämpfen und Widerwärtigkeiten finsterer, vorurteilsvoller Zeiten hüteten, haben die Gottesfackel nie von sich gewiesen, obgleich sie oft zur verzehrenden Flamme über ihrem Haupt zusammenschlug! So wollen wir das Fest der Geseke Gottes für immer freudig begehen. Lasst uns im Glück und im Unglück an Gottes Gebote halten, welche Gebote der Menschenliebe und Menschenwürde sind und bis zur letzten Feierstunde in den Ruf einstimmen:

Gott unser Gott, der ewig Eine
Gab uns in seiner Wahrheit Sonnenscheine
Die Lehre, die uns leitet klar und hell!
Sie ward in Finsternis uns Licht
Und unsre Seele wankte nicht:
Wir sind in Gott! Er ist uns Lebensquell!

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