Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Das Fest der Befreiung (Pessach)

Gott, Du hast uns das Gedächtnis für geschichtliche Begebenheiten gegeben, damit wir von der Vergangenheit lernen und ihren Zusammenhang mit der Gegenwart erkennen mögen, damit wir einsehen, dass Einigkeit im Leben der Welt ist, wie Du o Gott einig bist und dass wir uns dankbar all der Wohltaten erweisen, die Du der Menschheit in ihrer Entwicklung bereitet hast. Wir sehen zurück auf das Gewesene und schöpfen Mut, Vertrauen und Hoffnung für die Zukunft und die Erkenntnis der Wahrheit für unser eignes Leben. Als Festtage feiern wir die Erinnerungen an geschichtliche Begebenheiten, die vor Jahrtausenden geschehen sind und vereinigen uns in dieser Feier als Genossen eines Religionsstrebens, Dich o Gott zu erkennen in dem Leben der Menschheit und Deine Wahrheiten für alle Zeit zu verkünden.

Wie lehrreich wird uns die Führung des israelitischen Volkes auf dem Wege der Gotteserkenntnis!

Du senktest den Strahl der Erleuchtung in Abrahams Seele und im Leben unsrer Patriarchen liegt für uns der erste Zusammenhang unsrer Religionslehre. Durch Irrtum und Irrglauben gelangten sie zum Licht und zu der Spur der Wahrheit. Als Sklave wurde Joseph von seinen eignen Brüdern nach Ägypten geführt, im Kerker musste er schmachten, auf dass er geprüft werde und seines Vaters Stütze im Alter, seiner Glaubensgenossen und des Landes Segen dereinst werden konnte, indem er sie vom Hungertode rettete.

Freudig folgte Jakob des Sohnes Ruf und zog mit seinen Kindern und Anhängern nach Ägypten, aber er ahnte nicht, dass sie dereinst dort in bitterer Knechtschaft leiden sollten. Bis Du o Gott von den unglücklichen Kindern eines, das dem grausamen Tyrannen geopfert werden sollte und das die Mutter lieber dem Spiel der Wellen preisgab — bis Du dies schwache Kind erwähltest, der Erlöser seines Volkes zu werden. Moses, der von der Königstochter in allen Vorteilen eines Fürsten auferzogen und durch Gunst des Hofes unterrichtet ward, fühlte allein die Schmach seines erniedrigten Volkes, er, der Freie, fühlte den Schmerz der Gefesselten und wagte sein Leben um das ihrige zu verteidigen.

In die Wüste floh der tapfere Gottesstreiter, bis Du seinen Geist mit Kraft ausgerüstet hattest, o Gott, für sein Volk weiter zu streiten und es aus der Gewalt des Tyrannen zu befreien.

Mein Gott, wie groß und herrlich ist die Kraft der Überzeugung, die Kraft der Wahrheit, die von Dir ausströmt! Das erkennen wir in der wunderbaren Begebenheit, wie ein einzelner Mann es vermochte ein entartetes in der Sklaverei getretenes Volk zur sittlichen Freiheit zu erheben! Denn Moses führte die Israeliten nicht allein aus dem Ägypterland, um sie vom Druck der Ketten und von der Qual schimpflicher Knechtschaft zu befreien, sondern damit sie empfänglich würden für sittliche und geistige Freiheit und für Gottes Lehre zu kämpfen berufen seien!

Darum ist uns das Pessachfest ein dreifach geheiligtes! Befreit ist die Natur von ihrem Winterschlaf, befreit ist der Körper von der Leibeigenschaft übermütiger Fürsten, und befreit die Seele von dem Irrwahn der Vielgötterei.

Mit Liebe und Ehrfurcht stimmt die befreite Seele in den Ruf des Propheten Moses ein:

Gott ist ein einiges, einziges Wesen, ihn zu suchen und zu lieben erhebt uns zur Freiheit und zum Licht.

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