Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Das Tempelweihfest

Geschichtliche Rückblicke klären unsre Seele, auf dass wir unser Leben nicht als ein herausgerissenes Blatt in dem Buche des Weltlebens betrachten, sondern als ein im Zusammenhang mit dem Ganzen stehendes Kapitel, das wir erst recht verstehen und würdigen lernen, wenn wir das Vorhergegangene bis zu seinem möglichen Anfang verfolgen. — In einer Zeit, wie die heutige, wo Gleichgültigkeit in Religion immer mehr die Begeisterung verdrängt, ist es erhebend und notwendig, den jungen Herzen das Bild der Männer vorzuführen, die als Märtyrer ihrer Überzeugung lebten, kämpften und starben. Darum sei uns das Tempelweihfest alle Zeit eine heilige Erinnerung an den Opfermut unserer Vorahnen. Wer wird nicht erschüttert, wenn er die Martern liest, die Antiochus Epiphanes, der grausame Tyrann, gegen das unterjochte Volk der Israeliten ausübte? Wer wird nicht von gerechtem Unwillen erfüllt, wenn er sich die Bilder der Gräueltaten vorführt, die Antiochus gegen die unglückliche Nation ersann und ausführte, um ihren Glauben auszurotten und sie zum Götzendienst zu zwingen. Das Jammerbild der Mutter mit ihren sieben Söhnen, die lieber ihre Kinder, die Kleinodien ihrer Seele, und dann sich selbst zu Tode foltern sah, ehe sie die Religion ihrer Väter abschwor, rührt uns noch heute zu Tränen und gibt uns selbst Opfermut für unsere Überzeugung zu streiten. Auch zündet das Beispiel der edlen Märtyrer in den Herzen der Zeitgenossen! Aus Druck und Knechtschaft schwang sich die Seele einiger Helden zu mutiger Tat empor! Matthatias, aus der Priesterfamilie der Hasmonäer, rüstete ein kleines Heer tapferer Gottesstreiter, die ihr Blut willig dem Glauben ihrer Väter und der Befreiung ihres Volkes weihten. Doch ob auch Matthatias manchen Sieg über die Knechte des Tyrannen forttrug, erlebte er nicht mehr den Sieg! Sein Sohn Judas Makkabaus, Stammvater der Makkabäer, seinem Vater an Tapferkeit und frommer Begeisterung gleichend, führte sein Volk zum Kampf — und befreite sie von der Knechtschaft Syriens.

Als nun das fremde Volk vertrieben ward und man die Gotteshäuser von den Götzenbildern und Spuren der Gewalttaten gereinigt hatte, feierten die Israeliten in dankbarer Erinnerung das Fest der Tempelweihe! Und auch wir begehen es zu unsrem Trost, dass Gott die nicht verlässt, die mit Mut, sittlicher Kraft und den Waffen der Wahrheit ihre Religion, ihre Überzeugung, ihr Vaterland und die heiligsten Bande des Lebens verteidigen!

Wir aber danken Gott und freuen uns, dass wir in einer Zeit leben, wo Glaubenshass und Verfolgung immer mehr aufhören und jeder Gläubige nach seiner Erkenntnis und der ihm anerzogenen Form ausrufen kann — frei und ungehemmt: Ich glaube an Gott! Amen.

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