Glaube, Andacht und Pflicht
Gebete zum Versöhnungstag
Versöhnung des Reumütigen mit Gott.
Traurig sink' ich vor
Dir nieder
In den Staub so schwach und klein!
Habe Du o
Gott mich wieder
Lehr' mich gut und weise sein!
Vor der Sonne Deiner Gnade
Sink' ich hin aus Erdennacht,
Helle, Schöpfer, meine Pfade
Durch der Liebe heil'ge
Macht!
Lenke meinen Geist zum Frieden
In der
Erde Kampf und Not!
Sei mein Schutz und Hort hienieden
Und
mein Licht dereinst im Tod!
Gott erlöse mich von den Feinden in meiner eignen Brust, lass mich die Wahrheit erkennen, die mir durch Trugbilder meines Herzens verborgen ist und läutere durch wahre Selbstschau mein betrübtes Gemüt! — Ich habe meine Seele durch Sinnlichkeit und Leidenschaft befleckt, habe heilige Pflichten gegen Eltern und Angehörige, gegen Freunde und Genossen verlegt, bin oft von der Wahrheit abgewichen und habe mich von Neid und Missgunst, von Eitelkeit und Lüge verführen lassen. O Gott, ich müsste im Gefühl meines Unwertes vergehen, wenn ich nicht aufrichtige Reue fühlte und den festen Vorsah mich zu bessern!
Versöhne o Gott mein Gemüt! Dein heiliger Geist des Friedens senke sich zu mir nieder und verlasse mich nicht in des Lebens Freuden und wenn Schmerzen mich übermannen. Herr, lass mich nicht aus diesem Leben scheiden, bevor ich nicht die Wahrheit erkannt und meine Sünden aufrichtig gesühnt habe.
Versöhnung mit den Menschen.
Gott erleuchte meine Seele, damit ich nicht ungerecht sei gegen meine Brüder und Schwestern! Lass den Hass nicht in mir Raum fassen und die Leidenschaft mich nicht hinreißen! Lass Milde und Nachsicht in mir wohnen, damit ich nicht zu streng richte und selbst gegen meine Feinde und Widersacher sanftmütig bleibe. Ich weiß es ja am Besten, wie leicht man dem Irren unterworfen ist, darum o Gott will ich eingedenk eigener Schwäche auch Andre liebreich beurteilen und Bitterkeit und Zorn von mir weisen!
Ob wir Menschen auch noch so verschieden sind und unsre Meinungen uns zu scheiden scheinen, so bilden wir ja nur Eines, den Körper und seine Bedingungen, die entwicklungsfähige Seele haben wir Alle gemeinsam, wir haben einen Anfang und ein Ende, warum sollten wir uns Leben und Eigentümlichkeit missgönnen und verbittern? Darum sei mein Streben Duldsamkeit und mein Verlangen Versöhnung und aus der wahren Demut erwachse mir immer reiner und beglückender die Liebe und Gerechtigkeit zu den Menschen, die mir allein sittliche Freiheit gibt. Das wolle Gott! Amen.
Versöhnung mit dem Gedanken an den Tod.
Unergründliche Allmacht über Leben und Tod! Deine Allweisheit, die das All erschaffen hat und es erhebt in unwandelbarer Liebe — hat allem irdischen Dasein ein Ziel gesetzt! Auch dem Menschen, der hervorragt vor allen Geschöpfen durch Vernunft, freien Willen und eine ausdrucksvolle Sprache — auch er hat keine bleibende Wohnstätte auf Erden, auch er muss die Güter verlassen, die ihm hienieden so reichlich zu Teil werden. Von der Geburt an wandeln wir unaufhaltsam dem Tode entgegen, der uns in den mannigfachsten Lagen überrascht und teilen darin das Geschick des elendsten Wurmes im Staube. Im Grabe ruhen alle Geschlechter der Erde, das Grab umschließt unsre heimgegangenen Lieben und auch wir werden im Schoße der Erde unsre letzte Ruhestätte finden!
Entsetzlich trifft uns der Tod unserer geliebten Menschen! Trostlos würden wir an ihrem Grabe weinen, wenn uns nicht die Hoffnung ewigen Fortlebens erfüllte!
Die Stimme des Todes mahnt uns unsre Zeit zu nützen, so lange uns noch zu leben vergönnt ist, sie schmerzt uns, wenn herber Verlust uns trifft — aber wir verzweifeln nicht! Uns belebt der Gedanke, dass nur der Körper in Staub zerfällt, der Geist aber im Weltenall fortwirke als ein uns eigentümlicher Geist, gleich wie die ewigen Sterne! Formen und Gestalten wechseln, doch die Kraft in ihnen lebt ewig! Nichts geht in dem großen All verloren, es wandelt sich Alles nach immer höherer Bestimmung! Lehrt es uns nicht das Pflänzchen, dessen Fruchtkern ewige, unvertilgbare Lebenskraft eingehaucht ist? Der Fruchtkern des Menschen ist die Seele, das göttliche Besitztum — ihre Unsterblichkeit löst erst die rätselhaften Gegensätze unsres Lebens! Oder sollte was vom Pflänzchen gilt nicht auch am Menschen wahr werden?— Könnte der Gott der Wahrheit uns ein Dasein mit ewigem Durst nach Wahrheit verliehen haben — nur dass wir es nach mühseligem Ringen und Kämpfen in das Grab tragen müssen? Sollte uns ein ahnungsvoller Blick in die Tiefen der Weltschöpfungen verliehen sein — um plötzlich mitten im Streben und Forschen von der eisigen Hand des Todes zur Vernichtung hinab gerissen zu werden?
Wäre das Sehnen und Streben, das Kämpfen und Forschen der nach Freiheit lechzenden Seele nur für den Dienst des Körpers bestimmt? Über all' diese Fragen gibt uns erst die Todesstunde Ausschluss, unserem Wissen sind Grenzen gezogen, die wir so lange wir leben nie überschreiten dürfen! Aber wie sollte uns Todesfurcht durchbeben, wenn wir bedenken, dass alle Sterblichen mit uns das gleiche Los teilen! Gottes Liebe hat uns sicher nicht vergebens die nach Vervollkommnung dürstende Seele gegeben, er wird uns auch über die schwere Stunde des Todesgrauens hinweg führen und uns das Licht schauen lassen, das uns noch verhüllt ist!
Und walle ich auch im düsteren Todesschattental, ich fürchte nichts, Gott ist mit mir!