Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Am Vorabend des Neujahresfestes

Ich danke Dir o Gott für das verflossene Jahr, das mir unzählige Freuden und Güter gebracht hat! Ich danke Dir für das Leben meiner Lieben wie für das eigne. Auch vor trüben Stunden war ich nicht verschont, doch ich sah sie als Prüfung meiner Kraft an, dass ich meine Leidenschaften und unmäßigen Wünsche zügeln lerne und im Guten erstarke.

O dass ich vermöchte auf die Vergangenheit zurückzuschauen, ohne die verlorenen Tage und Stunden beklagen zu müssen, die ich nicht recht anwandte, ohne Neue über verschwendete Fähigkeiten und Kräfte, ohne Klage über so manche gute Tat, die ich ungeschehen ließ, über Frevel und Unrecht, die ich zuließ und beging.

Gott, dem kein Gedanke auf Erden verborgen bleibt! nicht um Deinetwillen bekenne ich mich zu meinen Sünden, sondern um meiner selbst willen, damit Eitelkeit und Selbstsucht mein Herz verlasse und mein Gemüt nicht starr im Bösen verharre! Erschüttert von Neue will ich demütig meiner Fehler gedenken und jedes Unrecht, das ich Tat, jede Lüge und Verleumdung, die ich sprach, jeden sträflichen Entschluss, den ich gefasst, jedes Wort des Hasses, das ich übereilt im Zorn gesprochen habe, führe mir die Erinnerung vor, damit ich mich vor neuen Fehltritten hüte!

Gib mir Kraft, dass ich stark sei gegen alles Niedere in mir und dass mir das Andenken des vergangenen Jahres zum Segen werde für das künftige. Lass mir dies kostbare Leben, an das ich so viele Hoffnungen knüpfe und reiße diejenigen nicht von meiner Seite, die meines Daseins Führer, Stütze und Freude sind!

Gesegnet sei der Schluss des Jahres wie der Anfang des künftigen mit Frieden, Frohsinn und Wohlsein!

Voriges KapitelNächstes Kapitel