Auszug aus: Else Ury — Wie einst im Mai
Siebzehntes Kapitel — Das soziale Gewissen erwacht
Von einer kleinen, unscheinbaren Frau mit einem warm für ihre Mitmenschen schlagenden Herzen sollte Fränze die Offenbarung, die Hilfe kommen. Während man draußen die ersten blutigen Schlachten schlug, begann diese Frau ihr Liebeswerk warmen Menschentums daheim.
An einem Vormittag der ersten Augusttage war es. Die Mutter, Klärchen und Mine waren auf den Markt gezogen, um Werdersches Obst zum Einkochen einzukaufen. Fränze war allein zu Hause. Sie war gerade dabei, für den Vater, der in der Nähe von Metz stand, ein Päckchen ins Feld zu senden, als die Porzellantürschelle anschlug.
Eine kleine, rundliche Dame mit freundlichen Gesichtszügen, eine große Brille vor den Augen, stand vor der öffnenden Fränze. Sie nannte ihren Namen »Frau Lina Morgenstern« und begehrte Frau Doussin zu sprechen.
Fränze teilte der Dame mit, dass die Mutter leider nicht daheim sei,
bat sie aber, näherzutreten. Vielleicht könne sie der Mutter irgend
etwas ausrichten.
Jawohl, das könne sie ganz gewiss. Sie wäre dem jungen Fräulein sogar sehr dankbar, wenn es ihre Sache bei der Mutter warm vertreten würde. Es handle sich darum, dass sie, für die von Osten nach Westen gehenden Militärzüge, die täglich die Berliner Bahnhöfe überschwemmten, in größerem Maßstabe Massenspeisungen auf den Bahnhöfen organisiert habe, um den ins Feld Ziehenden, die tagelang in den Eisenbahnzügen eingepfercht waren, die Wohltat einer warmen Mahlzeit zuteil werden zu lassen.
Fränze lauschte mit heißen Wangen. So etwas gab es in Berlin, solch ein Werk der Menschenliebe, und sie wusste nichts davon?
Auf den steifen, pfaublauen Damastmöbeln der guten Stube saßen sie sich gegenüber, die fremde Dame mit den beweglichen, heiteren Mienen und den Vertrauen einflößenden Augen, eine durch Liebenswürdigkeit gekennzeichnete Persönlichkeit, und die junge Tochter des Hauses. Ahnten sie es, dass sich unsichtbare Fäden von einer zur andern knüpften, Fäden der Zuneigung und der gemeinsamen Werktätigkeit, die für ein Leben erstarken sollten?
Die für die Speisung notwendigen Geldmittel mussten durch Sammlungen aufgebracht werden. Darum wandte sich Frau Morgenstern mit der Bitte um möglichst umfangreiche Unterstützung des Liebeswerkes auch an das Doussinsche Haus, das ja bei allen wohltätigen Veranstaltungen mit gutem Beispiel voranzugehen pflegte. Sie hoffe, keine Fehlbitte bei Frau Doussin zu tun.
»Ganz gewiss nicht«, versicherte Fränze lebhaft. »Ich selbst gebe sogleich meine Ersparnisse dafür.« Sie lief, sich entschuldigend, in ihr Stübchen und brachte die kleine silberne Windmühle, ihre Sparkasse, herbei. Ein Regen von Silbergroschen, Viergroschen- und Achtgroschenstücken prasselte auf die weiße Häkeldecke des Tisches.
»Ei, das ist ja schon eine ganz nette Beisteuer, mein liebes Fräulein!« sagte Frau Morgenstern lächelnd. »Nun heißt es aber in diese Geldüberschwemmung auch hübsch Ordnung zu bringen.« Sie begann mit den von schwarzen Filethandschuhen nur halb bedeckten Händen sogleich die Geldmünzen ihrem Werte nach aufzuzählen, genau so, wie der Vater unten im Laden allabendlich Kasse zu machen pflegte.
»Acht Taler, sechs gute Groschen«, schrieb die Besucherin in ihr Büchlein, das sie aus perlenbesticktem Pompadour zog. »Ich glaube aber, mein liebes Fräulein, Sie vermögen noch mehr zu geben.« Die klaren Augen hinter den großen Brillengläsern blickten anerkennend auf das junge Mädel, dem die Begeisterung für die gute Sache so deutlich in dem offenen Gesicht geschrieben stand.
»Im Augenblick — es ist leider unmöglich — ich verfüge nicht über mehr Geld«, stotterte Fränze errötend. »Meine Mutter wird aber sicher gern mehr beisteuern.«
»Davon bin ich überzeugt. Ich meinte soeben keine klingende Hilfe, sondern werktätige. Sie sehen mir so aus, liebes Kind, als ob Sie Ihre jungen Kräfte gern in den Dienst einer guten Sache stellen würden.«
»Und wie gern!« rief Fränze lebhaft. »Aber kann man mich denn irgendwo zu irgendwas brauchen?«
Fränze teilte der Dame mit, dass die Mutter leider nicht daheim sei, bat sie aber, näherzutreten. Vielleicht könne sie der Mutter irgend etwas ausrichten.»Freilich, fleißige Hände, junge warme Herzen, welche die Not anderer empfinden, können wir gar nicht genug zu unserm Liebeswerk haben. Allenthalben habe ich schon geworben, und ein stattlicher Stab von jugendlichen Hilfsgeistern schart sich bereits unter mein Zepter. Je mehr, umso besser. Unsere jungen Mädchen wissen ja leider sowieso nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen. Da ist ihnen die Arbeit im Dienste der Menschenliebe meist sehr willkommen.«
»O wie glücklich wäre ich, Frau Morgenstern, wenn ich für unsere tapferen Soldaten, die ihr Blut für uns hingeben, auch etwas tun könnte, wenn ich mithelfen dürfte an Ihrem schönen Werk! Schon lange sehne ich mich nach Betätigung. Hoffentlich reichen meine Fähigkeiten dafür aus. Meine Schwester Klärchen ist nämlich viel wirtschaftlicher als ich.« Etwas kleinlaut kam das letztere heraus.
»Dann bringen Sie es mir nur auch mit, das Schwesterchen! Aber ich habe auch zu Ihnen volles Vertrauen, liebes Kind. Augen, die so begeistert für ein Werk der Nächstenliebe strahlen können, finden sicher auch tatkräftige Hände zur Ausführung. Ich bin morgen am Potsdamer Bahnhof tätig und erwarte Sie dort um acht Uhr früh. Melden Sie sich gleich bei mir, dass ich Ihnen Ihre Arbeit zuweise!«
»Gern, wenn — wenn meine Mutter nichts dagegen hat.« Fränze Doussin war viel zu wohlerzogen, um solch einen wichtigen Schritt ohne Erlaubnis der Mutter zu machen. »Vielen herzlichen Dank, Frau Morgenstern! Ich hoffe, mich bestimmt pünktlich einzustellen.«
»Und wenn Sie Freundinnen haben, die gern ihre Hände für das Vaterland regen, rufen Sie diese nur auf, werben Sie fleißig für uns!« rief die bewegliche kleine Dame noch von der Treppe zurück.
Oben breitete Fränze selig die Arme aus. Da war es, das Große in ihrem Leben, auf das sie gewartet, nach dem sie sich gesehnt hatte. Nun würde sie endlich ein nützliches Mitglied der Menschheit werden, kein Luxusgeschöpf mehr, keine Drohne. Der »Morgenstern« der sozialen Arbeit war ihr soeben aufgegangen.
Vollbepackt kehrten Frau Doussin, Mine und Klärchen vom Markt zurück. Große Spannkörbe mit Johannisbeeren, sauren Kirschen und Himbeeren brachten sie heim zum Dreimuskochen. Trotz vermehrten Pflichten, trotz der Sorge um den im Felde weilenden Gatten blieb Frau Doussin stets vorsorgende Hausfrau. »Flink, Fränzchen, die große Wirtschaftsschürze! Wir brauchen jetzt alle Hände zum Entkernen der Kirschen«, rief die Mutter ihr entgegen.
Aber Fränze hatte augenblicklich nur geringes Interesse für Mutters Kirschen. »Du hast Besuch versäumt, Mutter; Frau Morgenstern, Frau Lina Morgenstern, eine reizende Dame. Sie hat die Speisung und Erquickung der ins Feld ziehenden Soldaten auf den Bahnhöfen ins Leben gerufen. Dafür sammelt sie nun. Ich habe bereits mein Spargeld gegeben, und sie lässt dich um eine größere Spende für ihr Liebeswerk bitten.«
»Ach, so eine Bettelei! Gut, dass ich nicht zu Hause war!« meinte Frau Doussin gleichmütig und begann ihre Spannkörbe zu entleeren.
»Nein, Mutter, wie kannst du das nur sagen!« ereiferte sich die Tochter. »Frau Morgenstern ist eine Dame, die für andere ein warmes Herz hat. Fast alle Berliner Familien haben sich an ihrem Werk der Vaterlandsliebe beteiligt.«
»Dann werden wir Doussins uns nicht ausschließen. Erst muss ich aber Einblick in die Beitragslisten haben.« Frau Doussin zeigte, dass sie nicht nur Hausfrau, sondern, wenn es drauf ankam, auch eine Kaufmannsfrau sein konnte.
»Und morgen früh soll ich mich auf dem Potsdamer Bahnhof bei ihr melden. Denk mal, Mutter, sie will mich an ihrer Hilfstätigkeit teilnehmen lassen! Klärchen, dich soll ich auch mitbringen und auch …«
»Warum nicht auch gleich mich und Mine?« warf Frau Doussin lachend ein. »Hättest deiner Frau Morgenstern gleich sagen können, wir hätten allein genug zu tun. Vielleicht hilft sie uns morgen beim Obsteinkochen.«
»Frau Morgenstern hat Größeres im Sinn, Mutter; sie denkt an die Allgemeinheit, arbeitet für andere. Ich bin glücklich, dass ich endlich einen Wirkungskreis gefunden habe, in dem ich mich betätigen kann«, rief Fränze lebhaft.
»Dein Wirkungskreis ist das Haus, liebes Kind, wie es sich für eine wohlerzogene Bürgertochter gehört. Hier findest du mehr als genug Betätigung. Allenfalls will ich mich mit einer Summe Geld an dem mir ziemlich unnötig erscheinenden Unternehmen der Dame beteiligen; denn für die Verpflegung der Soldaten sorgt die Heeresverwaltung. Aber meine Tochter gebe ich nicht dazu her; zur Marketenderin habe ich euch nicht erzogen.« Das klang so bestimmt, dass Fränze, der die Tränen nahe waren, kaum noch einzuwenden wagte: »Aber es sind doch schon so viele junge Mädchen dabei!«
»Sicher nicht Töchter aus guten Familien. — Und nun wollen wir unsere Gedanken auf unsere Arbeit richten! Anderer Leute Arbeit geht uns nichts an.«
Das wurde ein trübseliger Tag nach Fränzes himmelstürmender Freude über den Schicksalswink zur Betätigung ihrer sozialen Gedanken. Grenzenlos enttäuscht war sie. Sich gegen das Verbot der Mutter aufzulehnen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn. Es war ein gutes altes Bürgerhaus, das Doussinsche Haus, fest gefügt stand es. Was die Eltern sagten, das stand ebenso fest wie das alte Haus. Was sie für gut befanden, das war sicherlich zum Besten der Kinder; denn sie waren erfahrener als die Jugend und mussten es daher besser wissen.
»Lass man, Kind, lass man!« tröstete die alte Mine, der Fränze abends die Kaffeetöpfe für die Nachtarbeiter zurechtsetzen half. »Ob du nun Soldaten verpflegst oder Tabakarbeiter, das is Wurscht wie Schinken. Magen is Magen; mehr als satt können se ooch nicht werden.«
Frau Doussin aber tat ein übriges. Sie schrieb an Frau Lina Morgenstern, bedauerte, ihren Besuch versäumt zu haben, und entschuldigte ihre Tochter, deren Hilfe sie leider im Haushalt nicht entbehren könne. Gleichzeitig bat sie um Einblick in die Sammellisten, um sich ebenfalls zu beteiligen.
Zwei Tage später zog Frau Lina Morgenstern wiederum die Porzellanschelle in dem Doussinschen Tabakhaus. Sie überließ es nicht, wie sonst öfters, einer jugendlichen Helferin, die Listen vorzulegen. Die echte Begeisterung, die aus den dunkelblauen Mädchenaugen gestrahlt hatte, die freudige Hilfsbereitschaft hatte sie nicht vergessen. Sie wusste, wie schwer es einer sogenannten »höheren« Tochter oft gemacht wurde, die engen Familieninteressen zu allgemeinen Interessen auszubauen. Sie wollte das junge Ding, zu dem sie ein Gefühl der Zuneigung zog, nicht im Stich lassen.
Was Frau Lina Morgenstern sich in den Kopf setzte, das führte sie auch, allen Hindernissen zum Trotz, durch. War Frau Doussin tatkräftig, so war Frau Morgenstern zäh und ausdauernd. Dazu besaß sie eine kindliche Liebenswürdigkeit, die sofort für sie einnahm. »Wir haben kein Recht, liebe Frau Doussin«, machte sie geltend, »unsere Kinder in einer Zeit, in der das Vaterland alle seine Kinder braucht, nur für uns selbst zu beanspruchen, ganz abgesehen davon, dass es einem jungen Menschen zur Erstarkung seines Charakters guttut, im Dienste der Allgemeinheit zu arbeiten, über den engen eigenen Kreis hinaus sozial zu wirken. Sehen Sie hier die Liste meiner jungen Helferinnen! Sie sind alle freudig am Werke und ertüchtigen in der Arbeit.«
Frau Doussin griff zu ihrer Perlmutterlorgnette. Das waren Namen von Klang, angesehene Berliner Bürgerfamilien, deren Töchter sich dieser kleinen, lebhaften Dame angeschlossen hatten. Sie wurde schwankend. »Der Krieg verroht. Ich fürchte, ein junges Mädchen, das bisher im sicheren Schutz des Elternhauses aufgewachsen ist, wird dort nicht die vornehme Zurückhaltung finden, die es daheim gewöhnt ist«, wandte Frau Doussin noch ein.
»Unsere Soldaten sind von rührender Ritterlichkeit und Dankbarkeit gegen die jungen Helferinnen«, beruhigte Frau Morgenstern die Mutter. »Also nicht wahr, ich darf Ihre Tochter morgen früh erwarten?« Das wurde so kindlich in liebenswürdigem, aber in ebenso selbstverständlichem Tone geäußert, dass Frau Doussin die Waffen strecken musste.
Am nächsten Morgen begann Fränze Doussin ihr Werk im Dienste der Menschenliebe, dem sie ihr ganzes Leben lang treu bleiben, dem sie eine ebenso tüchtige, wie warmherzige Kraft werden sollte.
Während draußen blutige Schlachten geschlagen wurden, während die tapferen Truppen bei Weißenburg und Wörth, auf den Höhen von Spichern todesmutig den Sieg errangen, taten vom ersten Morgengrauen bis in die Nacht auf den Berliner Bahnhöfen Frauen und Mädchen in gleicher Begeisterung ihre vaterländische Pflicht. Fränze Doussin war bald eine der tüchtigsten von ihnen, nie ermüdend, pünktlich und zuverlässig auf dem Posten wie ein Soldat. Wenn sie aus großen Kübeln die kräftige Erbssuppe mit Speck für die sie umdrängenden Truppen austeilte, war es ihr leuchtender, warmer Blick, ein gutes, von Herzen kommendes Wort, was die zur Front Gehenden nicht weniger erquickte und stärkte als die warme Mahlzeit. Nie gekannte Befriedigung empfand das junge Mädchen, wenn es abends müde heimkehrte. Aus dem engen, kleinen Ich heraus hatte sie sich als ein notwendiges Glied der Allgemeinheit fühlen gelernt. Ihre Verehrung und Zuneigung für die Schöpferin und Leiterin des immer weiter ausgebauten Hilfswerkes wuchs in der Zusammenarbeit mit der ebenso warmherzigen wie frisch zugreifenden Frau. Und Frau Morgenstern selbst erkannte bald, dass ihr in der Doussinschen Tochter eine wertvolle junge Kraft für ihre vielen sozialen Pläne heranreifte.
Auch Klärchen, die zuerst voll Schüchternheit die Mithilfe auf den Bahnhöfen abgelehnt hatte, wurde von der Begeisterung der Schwester angesteckt. Sie mochte nicht zurückstehen, wenn jeder seine Kräfte einsetzte. Bald half auch sie unter Fränzes Oberleitung beim Kaffeeausschank. Sogar die Jungen hatten in dieser ernsten Zeit den Kopf nicht voller Dummheiten wie sonst. Sie kamen sich unglaublich wichtig vor, als sie an den schon in Friedenszeiten bewunderten Eisenbahnzügen Doussinschen Pfeifen-, Kau- und Schnupftabak als Liebesgaben verteilen durften.
Auch in dem Freundinnenkreis hatte Fränze Hilfstruppen geworben: Lisabeth Körner und Martha Leuchter hatten sich ebenfalls bei Frau Morgenstern als Helferinnen gemeldet und fühlten sich dadurch ausgefüllt. Die größte Genugtuung aber gewährte es Fränze, als ihre Mutter, als Frau Doussin selbst, die dem Unternehmen nur sehr geringe Zuneigung entgegengebracht hatte, durch das Beispiel Frau Morgensterns und vieler anderer Berliner Frauen angeregt, auch eines Tages ein Ehrenamt übernahm. Mine blieb Alleinherrscher im Doussinschen Hause.
Auch in Neu-Trebbin wurden junge Hilfstruppen mobil gemacht. Mariechen Dorfmüller half auf dem Küttnerschen Gute mit den Geschwistern die Augusternte einbringen, denn es fehlte an Männern zur Landarbeit.
Bei Metz tobten die Schlachten, hartnäckiger als je zuvor. Tagelang blieben im Tabakhaus die Nachrichten vom Vater aus. Arbeit — Arbeit, da hatte man keine Zeit zum Sorgen. Dankbar empfand Fränze den Segen einer regelmäßigen Pflichterfüllung. Sie sowohl als auch Klärchen bemühten sich, der Mutter harmlose Zuversicht zu zeigen. Dabei bangten sie unausgesetzt um den Teuren.
Ein Siegestelegramm: das Gemetzel bei Gravelotte hatte den deutschen Waffen schweren Sieg errungen. Schwere, schwere Verluste! Während Jubel die preußische Hauptstadt durchtoste, breitete der düstere Engel des Todes seine Trauerschwingen über so manches Haus.
Hauptmann Wilke war am 18. August bei Gravelotte an der Spitze seiner Braven gefallen. Eine unscheinbare Feldpostkarte, eine wie viele andere, meldete die schicksalschwere Botschaft. Änne, die dem Briefträger bis auf die Treppe entgegenzulaufen pflegte, stand mit gelähmten Gliedern. Mit erloschenen Augen starrte sie auf die verschwimmenden Zeilen. Sie wagte sich damit nicht hinein zur Mutter. Zum ersten mal im Leben war das Soldatenkind feige.
Noch immer keine Nachricht bei Doussins. Irgend etwas war geschehen. Wenn auch einmal Karten verloren gingen, der Vater hatte bisher täglich an seine Lieben geschrieben, seine Feldpostsendungen mit kaufmännischer Genauigkeit numerierend. Ein lähmender Druck legte sich über das Haus der fleißigen Arbeit, von der tatkräftigen Frau Doussin ausgehend, durch Familie, Kontor, Laden und Fabrik sich fortpflanzend.
An einem heißen Augusttaq erschien bei Doussins ein bisher noch nicht dort gewesener Gast, lang und schmal, mit türkischem Longschal und Sonnenknicker, in Begleitung eines wohlbeleibten, modefarbenen Mopses. Frau Doussin kannte Hanna Kruses Tante Mathilde, wie man sich eben kennt und an dritter Stelle begrüßt, ohne miteinander zu verkehren. Sie wusste nicht recht, was sie von ihrem Besuch zu halten habe. Auch konnte sie nicht umhin, Moppel, der mit anmaßender Dreistigkeit ebenfalls auf dem Sofa der guten Stube Platz genommen hatte, nichts weniger als gastfreundliche Empfindungen entgegenzubringen. Nur gut, dass die pfaublauen Damastmöbel zum Schutz gegen Sonne und Staub mit weißen Nesselbezügen eingehüllt waren!
Da zog Tante Mathilde umständlich eine Postkarte aus dem mit Stiefmütterchen bestickten Beutel. »Werte Madam Doussin«, begann sie, »es liegt mir die traurige Pflicht ob …« Sie machte eine Kunstpause, als müsse sie erst Kraft für ihre Mitteilung sammeln.
»Sie wissen irgend etwas von meinem Mann?« Frau Doussin, die stets beherrschte und gesellschaftliche Formen einhaltende Dame, wusste nicht, dass sie ihrem Besuch mit jähem Erschrecken die Karte aus den Händen gerissen hatte. Eine fremde Schrift. Die Buchstaben flimmerten vor den Augen der erregten Frau.
»Werte Madam Doussin, Sie müssen sich fassen. Mein Schwager, Ihr Hausarzt, ersucht mich, Sie darauf vorzubereiten …«
Da aber las Frau Doussin, all ihre Kraft zusammenraffend, bereits selber: »Teile bitte der Familie Doussin mit, dass Herr Doussin vor einigen Tagen mit Rückenschuss in meinem Lazarett eingeliefert worden ist! Die Sache war ernst. Aber jetzt hoffe ich, ihn durchzubringen. Sobald er befördert werden kann, werde ich dafür sorgen, dass er in die Heimat geschafft wird.«
Die Karte entsank Frau Doussins Händen. Da war sie, die Gewissheit. Sie hatte es ja geahnt, unbedingt gefühlt, dass etwas geschehen war. Nun musste sie dankbar sein, dass ihr noch Hoffnung blieb.
Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihres Besuches: »Werte Madam Doussin, was unser Herrgott uns schickt, müssen wir tragen. Ich muß es auch auf meine alten Tage hinnehmen, dass ich allein in der großen Wohnung sitze, dass die eigene Nichte, die ich wie eine Tochter aufgezogen, es vorzieht, fremde Soldaten zu pflegen, anstatt der alten Tante Gesellschaft zu leisten. Der Hund ist treuer als der Mensch.« Sie nickte Moppel, der sich gerade eingehend mit dem von bronzenem Blätterkranz getragenen, blumenbemalten Spucknapf in der Ecke befasste — wohl in der Meinung, dass es sein Futternapf sei —, wehmütig zu.
»Ich bin glücklich und dankbar, dass ich meinen armen Mann in der bewährten Obhut und Pflege unseres guten Doktors weiß. Unser Herrgott, der ihn uns beschützt hat, wird ihn auch wieder zu uns heimkehren lassen«, sagte da Frau Doussin zu ihrer Verwunderung ruhig und gefasst.
Tante Mathilde fand diese Fassung eigentlich reichlich schnell. Die Nachricht war es doch wohl wert, dass man erst einige Tränen vergoss und jammerte. Steif und gemessen wünschte sie baldige Genesung und empfahl sich mit ihrem Moppel.
Als die Töchter am Abend in fieberhafter Spannung, wie nun schon seit Tagen, das Haus betraten, Nachricht hoffend und fürchtend, empfing sie die Mutter: »Kinder, gottlob, unser Vater lebt! Hannas Tante Mathilde war hier. Leider brachte sie die schlimme Botschaft …«
»Bruno?« Ein Schreckenslaut entrang sich Fränzes Lippen. Sie wusste es nicht, dass sie erbleichte, dass sie sich an dem nächsten Stuhle festhalten musste. In elementarem Gefühl brach es aus ihr heraus, was ihr selbst bis jetzt kaum noch bewusst gewesen.
Der Mutter Auge ruhte nachdenklich auf der erbleichten Tochter. Wie wenig kannte man doch sein eigen Fleisch und Blut!
»Unser Vater liegt schwer verwundet bei Doktor Kruse im Feldlazarett. Ein gütiger Engel hat ihn dorthin geführt. Unser Doktor hofft, ihn uns zu erhalten und …« Jetzt hielt Frau Doussins Fassung doch nicht mehr stand. Die gewaltige Erregung löste sich in Tränen.
Niemals hatten Fränze und Kläre ihre tatkräftige Mutter weinen sehen. Voll Zärtlichkeit waren sie um sie bemüht, mit hoffnungsfreudiger Zuversicht, wie nur die Jugend sie kennt.
Sie sollte nicht trügen. Acht Tage später hatten sie den Teuren daheim. Langsam genas er bei der liebevollen Pflege seiner Frau. —
Das Kriegsrad rollte weiter, unbekümmert darum, wen es in seinen Speichen zermalmte. Die Schlacht von Sedan, welche die französische Armee MacMahons vernichtete und Napoleon zwang, seinen Degen abzuliefern, löste unaussprechlich en Jubel in allen deutschen Herzen aus. Berlin war ein Flaggenmeer.
Wer hatte da Zeit, an die Opfer des furchtbaren Kampfes, an die Verwundeten, Stöhnenden zu denken?
Lazarettzug auf Lazarettzug rollte in die Bahnhöfe. Die jungen Helferinnen hatten jetzt schweren Dienst. Es galt, all die trockenen, fiebernden Lippen mit kühlendem Trank zu erquicken und, wenn es nottat, selbst mit Hand anzulegen bei Umbettung und Weiterbeförderung der Verwundeten.
In grenzenlosem Mitleid, in reinster Menschenliebe waltete Fränze ihres schweren Amtes. Alle waren sie ihre Brüder, die da litten, die für das Vaterland ihr Blut geopfert hatten. Sie war bei der Unterbringung der Verwundeten in die Berliner Lazarette tätig. Frau Lina Morgenstern, die überall zugleich war, staunte selbst manchmal über diese unermüdliche Opferfreudigkeit und Arbeitskraft eines so jungen Menschenkindes.
An einem goldenen Septembertage war es. Der Krieg war noch nicht zu Ende, wie man in der Heimat nach der Siegesnachricht von Sedan erhofft hatte. Die deutschen Heere belagerten Paris.
Ein frischer Transport Verwundeter war auf dem Potsdamer Bahnhof eingetroffen. Fränze schritt von einem zum andern, mit freundlichem Wort erquickende Limonade reichend, hier und da einen besonders Schwachen dabei stützend. Jetzt stand sie an einer Tragbahre, auf der ein Verwundeter mit geschlossenen Augen ruhte. Das Eiserne Kreuz erster Klasse schmückte seine Brust. Das bleiche Gesicht war fast ganz von einem Kopfverband verhüllt. Kaum erkenntlich war es, und doch — irgend ein Gefühl, ein unfehlbares, nicht trügendes Gefühl zwang Fränze in jähem Erschrecken den Namen auf die Lippen: »Bruno — Bruno Kruse!«
Der Verwundete öffnete mühsam die Augen. Wie aus weiter Ferne blickten sie. Jetzt kam Bewusstsein, Erkennen in den glanzlosen Blick: »Fränzchen!« Ein glückliches Lächeln verklärte seine Augen, dann schloß er sie wieder matt.
Wie gelähmt stand Fränze. Was hatte der Krieg aus dem Freunde gemacht? Sie zwang ihr Weh hinunter, ihre Gedanken auf das Notwendige. An den Sanitätsoffizier, der den Transport leitete, wandte sie sich mit der Bitte, zu veranlassen, dass der Verwundete Bruno Kruse in die zum Lazarett umgewandelte Klinik seines Vaters transportiert werde. Aus der Liste, die der Sanitätsoffizier führte, erfuhr sie, dass Bruno bei Sedan nicht nur Kopfschuss, sondern auch Beinverletzung davongetragen hatte. Ihre Bitte fand Erfüllung. Hanna Kruse wurde die Pflegerin des schwer verwundeten Bruders.
Mit eiserner Selbstzucht zwang Fränze sich zu ihrer Pflicht zurück. Ihre Gedanken waren bei dem leidenden Freunde; aber da waren viele, viele, die gleich ihm litten, denen sie ihre Qual erleichtern konnte. Fort mit dem kleinen Ich, mit seinem Bangen und Hoffen! Es galt, in der großen Allgemeinheit aufzugehen, mit echter Menschenliebe alle zu umfassen, denen sie Samariterin sein durfte.
Achtzehntes Kapitel — In alle Winde verstreut
In das Silvesterglockengeläut dröhnte noch immer Kanonendonner. Dem neuen Jahre erst war es vorbehalten, die Friedensglocken erklingen zu lassen, Deutschland unter kaiserlichem Zepter zu einen.
»Deutschland, Deutschland über alles!« hallte es von der Maas bis zu der Memel. Jeder Deutsche hatte in jenen Siegestagen das begeisternde Gefühl, einem starken, entwicklungsreifen Volke anzugehören.
Ein Aufschwung, ein geschäftiger Taumel, wie ihn jeder siegreiche Krieg zeitigt, ergriff das Land. Neues Streben, neue Ziele. Das alte Berlin wurde zu eng als Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches. Fieberhafte Bautätigkeit, verbunden mit Spekulationsgeist, erwachte. Vor den Toren, wo ländliche Idylle und Gartenland geträumt hatten, schossen wie Pilze hohe Mietshäuser empor. Ein neues Berlin entstand.
Ein frischer Transport Verwundeter war
eingetroffen. Fränze schritt von einem zum andern, mit freundlichem Wort
erquickende Limonade reichend.
Überall Neues, wohin man blickte, auch im engen Kreise. Was war aus dem Freundinnenbund, aus den Maienkränzlerinnen geworden?
Hanna Kruse hatte in Zürich ihre Maturitätsprüfung bestanden und war dort als Studentin der Medizin zugelassen. Der Krieg hatte erst kommen müssen, um ihr diesen Weg zu bahnen. Die Wochen, in denen sie dem Würgengel das Leben des Bruders in heißer, ringender Arbeit entrissen hatte, lenkten auch ihr Leben in neue Bahnen. Das klare und gerechte Urteil des langsam Genesenden konnte sich nicht der Erkenntnis verschließen, dass die Schwester, durch praktische Lazarettarbeit geschult, eine vorzügliche Ärztin werden würde, dass gerade ihre weiblichen Eigenschaften in der Ausübung dieses Berufes zur Entfaltung kamen. Wenn man schon an der Grenze des Schattenreiches gestanden hat, weitet sich der Blick, der früher eng begrenzte. Aus dem Gegner des Frauenstudiums wurde Bruno jetzt Hannas wärmster Fürsprecher beim Vater.
So war denn aus Hanna Kruse, trotzdem Tante Mathilde und Moppel die Familienschande nicht zu überleben glaubten, eine der ersten deutschen Studentinnen geworden, eine Pionierin auf dem mühseligen Wege des Frauenstudiums.
Unter der treuen Pflege der Schwester waren Bruno Kruses Wunden geheilt. Aber eine Steifheit des Beines, leichtes Hinken war zurückgeblieben. Der junge Mann litt mehr darunter, als er zeigte; hielt er sich dadurch doch nicht mehr für berechtigt, ein Leben, das ihm teuer war, an das seinige zu knüpfen. In der Arbeit, in der noch in den Kinderschuhen steckenden elektrischen Technik, der er sich jetzt ausschließlich zuwandte, hoffte er seelisch zu gesunden.
Im Hause Doussin war, wie allenthalben in der Industrie, gesteigerte Geschäftigkeit. Die Firma stand nach dem Kriege in voller Blüte. Herr Doussin hatte nach der schweren Verwundung nicht ganz seine volle Leistungsfähigkeit wiedererlangt. Ein Mann in vorgerückterem Alter erholt sich nicht so leicht wie ein junger Organismus. Der fleißige, rastlose Mann musste sich jetzt doch ab und zu Schonung auferlegen. Er ging ernstlich mit dem Gedanken um, den jungen Weber, den tüchtigen Reisenden, als Teilhaber in seine Firma aufzunehmen und sich dadurch zu entlasten; denn bis die Jungen so weit waren, konnte noch so manches Jahr vergehen.
Bei Fränze Doussin war der Krieg, der vernichtende, der so vieles niedergerissen hatte, grundlegend geworden. Sie hatte auf den Grundlagen sozialer Hilfsbereitschaft weitergebaut. Frau Lina Morgenstern war ihr eine ältere Freundin geworden, Führerin auf dem noch kaum gebahnten Wege zur Gemeinnützigkeit. Was gab es jetzt für soziale Kriegswunden zu heilen, werktätige Hilfe für die Invaliden, für die Kriegshinterbliebenen zu leisten! Während ein Teil des Volkes prasste und schwelgte, hungerten viele; denn Teuerung der Lebensmittel hatte Platz gegriffen. Da war es wiederum die kleine Frau mit dem großen Herzen voll Menschenliebe, die zur Gründerin der Volksküchen wurde. Überall, in allen Himmelsgegenden der Stadt, wurden Volksküchen eingerichtet. Der Stab jugendlicher Helferinnen, die arbeitsfreudigen Heinzelmännchen aus der Kriegszeit, blieben Frau Lina auch jetzt treu. Wie sie an Truppen und Verwundeten ihre Pflicht getan hatten, so taten sie diese jetzt den Darbenden gegenüber. Zahllose Näpfe voll Löffelerbsen mit Speck wurden für zwei Silbergroschen in den Volksküchen verausgabt. Milchreis mit Zucker und Zimt konnte man sogar für einen Silbergroschen erstehen.
Fränze Doussin war stolz und glücklich, dass Frau Morgenstern sie trotz ihrer Jugend für würdig erachtete, selbständig einer Volksküche vorzustehen. Ihre Eltern hatten nichts mehr gegen diese soziale Hilfstätigkeit einzuwenden. Frau Doussin hatte in Kriegstagen selbst deren Segen kennengelernt. Sie konnte sich nicht der Tatsache verschließen, dass ihre Tochter dadurch nicht nur in jeder Beziehung tüchtiger und umsichtiger geworden war, sondern auch ausgefüllt und befriedigt durch nutzbringende Tätigkeit. Auch der Vater hatte sich damit abgefunden, da es sich nicht um bezahlte Leistungen handelte, die seinen Familienstolz verletzten.
Mit ihrer Tätigkeit in der Volksküche war Fränzes Arbeitskraft noch nicht erschöpft. Ihr Interesse wandte sich jetzt wieder den eigenen Tabakarbeitern zu. Sie hatte inzwischen gelernt, worauf es ankam. In dem hundertjährigen weitläufigen Fabrikgebäude fand sich auch ein Raum, den man nicht zur Fabrikation brauchte. Als Fränze ihn herausgefunden hatte, ruhte sie nicht eher, als bis der Vater ihr gestattete, dort nach dem Vorbild der Volksküchen eine Kantine für die Tabakarbeiter zu errichten. Mit Umsicht setzte sie ihren Plan in die Wirklichkeit um und hatte nicht nur die Freude, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen dankbar die warme, nahrhafte Mahlzeit in Empfang nahmen, sondern dass auch die Eltern sich voll Interesse dieser menschenfreundlichen Einrichtung zuwandten. Mine, die sich immer schon zur Ruhe setzen wollte, aber von Madam Doussin nicht fortgelassen wurde, fand hier ein Arbeitsfeld für ihre alten Tage.
Wohl stiegen manchmal bei ihrem gemeinnützigen Schaffen auch persönliche Wünsche in Fränze auf. Ach, sie war doch erst zwanzig Jahre! Aber die Arbeit, das Denken an andere half ihr, diesen Gedanken keinen zu großen Spielraum einzuräumen. In das Krusesche Haus kam sie jetzt, wo Hanna in Zürich studierte, nicht mehr. Nur durch ihren Hausarzt Doktor Kruse, der alle vierzehn Tage einmal mit seiner alten Lise vor dem Doussinschen Hause hielt, um sich nach dem »werten Ergehen« zu erkundigen, erfuhr sie dies und jenes von den Kindern: dass Hanna in der Anatomie arbeite, ohne Ohnmachtsanfälle zu bekommen — »was ist das jetzt für eine gefühllose Jugend!« —, dass Bruno nur noch Sinn für seine elektrotechnischen »Spielereien« habe — »der Junge sprengt uns eines Tages noch alle in die Luft« — und dass Bernhard, der durch den Krieg etwas verbummelt war, jetzt ernstlich ans Physikum zu denken scheine. Fränze sah Bruno monatelang nicht, trotzdem man keine zehn Minuten voneinander wohnte.
Auch Eva Nikolai war dem Freundinnenkreis untreu geworden. Sie hatte sich nicht entschließen können, ins Ausland zu gehen, wo ihr eine Stellung als Erzieherin angeboten worden war. Es schien ihr unweiblich, aus den Heimatgrenzen hinaus Schritte in ein anderes Land zu machen. Sie fühlte sich unsicher, dem Fremden nicht gewachsen. So hatte sie es vorgezogen, eine Gouvernantenstelle in einer ostpreußischen Oberförsterei anzunehmen, wo sie vier Kinder zu unterrichten hatte. Wenn diese auch nahe der polnischen Grenze lag, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagten, es war doch Deutschland.
Martha Leuchter dagegen hatte der deutschen Heimat den Rücken gekehrt. Den durch den Krieg etwas zurückgetretenen Plan, sich in Italien anzusiedeln, hatte ihr Vater nach erfolgtem Friedensschluss doch noch zur Ausführung gebracht. Bei Fiesole, oberhalb von Florenz, unter Pinien und Zypressen, stand das weiße Säulenhaus mit dem flachen Dach, in dem die deutsche Künstlerfamilie ihr Atelier aufschlug.
Das Blütchenhaus in der Fischerstraße, das vom Alter krumm und schief gezogene, das noch so dastand wie vor hundert Jahren, hatte eine Veränderung erfahren. Gustel, das emsige Hausmütterchen, lief nicht mehr geschäftig über die Treppchen und Holzgalerien des winkligen Hofes. Der krausköpfige Tischlergeselle, die rechte Hand des Vaters, hatte sie als seine Hausfrau heimgeführt. Minnie, die zweite, war inzwischen eingesegnet worden und konnte jetzt für Vater und Geschwister sorgen.
Sogar bis in das fliederumbuschte Kantorhäuschen in Neu-Trebbin zog die neue Zeit ihre aufpeitschenden Kreise. In Gestalt einer Handnähmaschine hielt sie dort ihren Einzug. Das ganze Dorf lief zusammen, um dieses ungeheure Wunder anzustaunen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend konnte man sie rasseln hören. Aha! Die Neu-Trebbiner machten ein schlaues Gesicht. Gewiss nähte sich Dorfmüllers Mariechen ihre Aussteuer; denn dass Küttners Hermann und sie einmal ein Paar würden, das schnatterten schon die Gänse und Enten im Dorfteiche.
Am einschneidendsten war die Veränderung, die der mitleidlose Krieg in Änne Wilkes Leben gerissen hatte. Ihr bisher spielerisch an der Oberfläche dahingleitendes Dasein war mit dem Tode des Vaters gänzlich aus der Bahn geschleudert. Anstatt ihr Mut zuzusprechen, bedauerte die Mutter Änne. Was hatte das Kind noch vom Leben? Nichts, rein gar nichts, keine Bälle mehr, keine Gesellschaften; man hatte ja kein Geld, um sich zu revanchieren. Die lustigen Leutnants, die Änne früher den Hof gemacht, blieben jetzt fort. Welcher junge Leutnant konnte es sich leisten, ein armes Mädchen zu heiraten! Änne selbst kam sich höchst bejammernswert vor. Zu der Trauer um den Vater kam die um das eigene Ich. Ein mittelloses Mädchen aus guter Familie — was sollte das anfangen? Änne hatte an Stelle der verlorenen Vergnügungen nichts Wertvolles zu setzen, das ihr Inneres hätte bereichern können. Ernste Arbeit, die Befriedigung gewährte, kannte sie nicht. Selbst jetzt, wo die Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, an sie herantrat, verboten ihr Standesvorurteile und falsche Scham, die in der Schneiderei erworbenen Kenntnisse und den Schönheitssinn, den sie besaß, zur Grundlage für eine sichere Existenz zu machen. Eine Hauptmannstochter Schneiderin für andere Leute — undenkbar! Wenn man schon in der bedauernswerten Lage war, Geld verdienen zu müssen, dann heimlich, dass es nur keiner der Standesgenossen merkte. So stickte Änne daheim für Handarbeitsgeschäfte, filierte, strickte und häkelte bei der Petroleumlampe um ein paar Pfennige bis in die Nacht hinein. Die Arbeit war weder freude- noch nutzbringend. Sie ließ den Gedanken Spielraum, unfruchtbaren Träumereien nachzuhängen.
Da hatte Lisabeth Körner das Leben mit festeren Händen angepackt! Hanna Kruses Wort vom letzten Maienkränzchen, dass es neuerdings Möglichkeiten gäbe, auf hauswirtschaftliche Fähigkeiten eine lohnende Eyistenz aufzubauen, hatte sie in ihrem Innern bewahrt. Während des Krieges hatte sie kein Recht gehabt, eigene Ziele zu verfolgen, da gehörte ihre Arbeitskraft dem Vaterland. Sie war Fränze dankbar, dass sie durch diese zu sozialer Hilfstätigkeit herangezogen worden war. So hatte sie den Schritt aus den engen Mauern des Hauses hinaus ins Leben getan. Wer erst einmal draußen frischen Luftzug einer neuen Zeit geatmet hat, dem erwachsen auch neue Möglichkeiten, sich zu betätigen. Das Pestalozzi-Fröbelhaus war als eine Parallelanstalt des Lettevereins gegründet worden, nur mit dem Unterschiede, dass man dort nicht nur berufstüchtige Frauen heranbildete, sondern den Hauptwert auf soziale Fürsorge für Kinder und heranwachsende Jugend legte. Es war das erste soziale Unternehmen dieser Art, das den Kindern, dem kommenden Geschlecht, gerecht wurde. Dort im Pestalozzi-Fröbelhaus fand Lisabeth Körner, tüchtig und umsichtig wie sie war, einen schönen, sie voll befriedigenden Wirkungskreis.
Der Kindergarten war Lisabeths eigenstes Feld, auf dem sie segensreiche Saat ausstreute, die ihr erfreuliche Früchte brachte. Die Arbeiterfrau, die früher vor der Wahl gestanden war, entweder schlecht bezahlte Heimarbeit anzunehmen oder die Kinder sich selbst zu überlassen, brachte jetzt ihre Kleinen von zwei Jahren an in das Pestalozzi-Fröbelhaus. Besser konnten sie nicht aufgehoben sein als dort. Mütterlich liebevoll nahm Lisabeth all die Kleinen, zu denen auch viele Kriegswaisen gehörten, an ihr Herz.
Eines Tages kam eine blasse junge Frau mit einem einjährigen und einem erst nach Wochen zählenden Wickelkind in das Pestalozzihaus. Man wies sie ab, denn für so kleine Kinder war die Anstalt nicht eingerichtet. Die Frau weinte und jammerte. Der Mann war Kriegsinvalide, zog mit einem Leierkasten auf den Höfen umher und vertrank die paar Pfennige, die er verdiente. Er war vorher fleißig und arbeitsam gewesen, erst im Krieg hatte er sich das Trinken angewöhnt. Sie sei drauf und dran gewesen, mit ihren Würmern in die Spree zu gehen; da habe sie von dem Pestalozzi-Fröbelhaus gehört, wo man ein Herz für arme Kinder habe. Mit dieser letzten Hoffnung komme sie hierher.
Lisabeths Inneres erzitterte in Mitleid. Trotzdem stand sie ratlos. Die Anstaltsvorschriften schlossen die Aufnahme so kleiner Kinder aus. Aber die Verzweiflung in dem verhärmten Gesicht der armen Mutter brachte Lisabeths Vernunft zum Schweigen, ließ nur ihr Herz sprechen. Trotzdem einige im Pestalozzihaus tätige Damen dringend abrieten, sich mit den noch zu kleinen Kindern eine solche Last aufzubürden, enttäuschte Lisabeth die Arme nicht. Sie behielt die Würmer da.
»Und was werden Sie selbst nun beginnen?« erkundigte sich Lisabeth; denn ihr Denken hatte sich bereits sozial eingestellt. Mit Rat und Tat musste man helfen.
»Ich will sehen, irgendwo Arbeit zu bekommen.«
»Haben Sie etwas gelernt?«
»Nein.«
Lisabeth überlegte. »Wir brauchen hier in unserer Anstalt jemanden zum Abwaschen, Kartoffelschälen, Scheuern. Könnten Sie das übernehmen?«
»Und wie gern!« Dankbarkeit leuchtete in den matten Frauenaugen auf, dass man sie nicht von ihren Kindern trennte, ein Hoffnungsfunke, ein winziger, dass das Leben doch noch einmal besser werden könnte.
Es war gut, dass Lisabeth auch die Mutter dabehalten hatte. Ihre jüngsten Zöglinge machten ihr doch mehr zu schaffen, als sie gedacht. Albrecht, der Einjährige, brüllte wie am Spieß, sobald Lisabeth ihn auf den Arm nehmen wollte, und Otto, das Wickelkind, stimmte mit ein. Alles Schaukeln, Klopfen, Zungenschnalzen und Singen wurde von dem zweistimmigen Konzert übertönt. Das allerschlimmste aber war, dass es ansteckend auf die Kleinen des Kindergartens wirkte; eine Heulepidemie brach plötzlich aus.
Die herbeigerufene Mutter verstand es, die kleinen Ruhestörer zu beruhigen. Es war doch nicht so einfach, Säuglinge aufzuziehen. Wie oft an diesem ersten Tage fragte sich Lisabeth, ob sie recht getan, ob sie den neuen Anforderungen auch gewachsen wäre! Als die beiden Jüngsten, in Waschkörbe gebettet, fingerlutschend glücklich eingeschlafen waren, atmete sie erleichtert auf.
Lisabeths kleine Schreihälse bildeten die ersten Anfänge, die Grundlage der späteren Säuglingskrippe des Pestalozzi-Fröbelhauses, die Mutter und Kind zum Segen geworden ist.