Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Ehre Vater und Mutter , damit du lange lebst und es dir wohl gehe in dem Lande, welches der Ewige, dein Gott, dir gibt

Ehe du noch von Gott etwas wusstest, von dem Unsichtbaren, der dich liebend gebildet, der dich hütet und leitet auf dem ganzen Wege, den du zu gehen hast auf Erden, ist dein kindlicher Sinn schon von Liebesbeweisen sichtbarer Wesen gerührt und bewegt worden. Die Eltern sind es, auf die dein erwachendes Auge fiel, ihre Zärtlichkeiten, die zuerst dich erfreuten, die Eltern, die Gott dir als seine Stellvertreter gesendet hat, dass du in ihnen die Boten seiner unerschöpflichen Güte und Treue verehrst, den Abglanz seines heiligen Wesens schaust.

Keines Menschen Liebe zu dir ist so gottähnlich als die von Vater und Mutter, Niemand ist so nachsichtig und versöhnlich bei deinem Undank und bei den Schmerzen, die du ihm bereitest, Niemand will dir so sehr um deiner selbst willen wohl, ist so ausdauernd und unermüdlich in der Sorge, so hingebend in seinen Opfern für dich.

Darum steht das Gebot der Ehrfurcht und Liebe gegen die Eltern an der Spike deiner Pflichten gegen die Nebenmenschen.

Seine wahrhafte Erfüllung bildet aber auch das wichtigste Mittel, um allen übrigen Pflichten gerecht werden zu können, die Grundlage deines künftigen Lebensglückes. Gesetzt, du wärest nicht im Stande, den Eltern, die so hohe Verdienste um dich haben, Ehrfurcht und Liebe zu erweisen, du vermöchtest nicht, dich ihren nur deinem eignen Heile geltenden Absichten zu fügen, für sie eine Mühe zu übernehmen, ein Vergnügen zu opfern willst du fähig werden, später dem Wohle derjenigen zu leben, die mit kalter Gleichgültigkeit dir entgegenkommen statt mit inniger Vorliebe, mit strenger Prüfung statt mit milder Nachsicht, mit Ansprüchen statt mit Wohltaten? Wie willst du dich fügen dem Lehrherrn, Ehrerbietung zollen dem Gesetz und seinen Vertretern, Opfer bringen der Gemeinde und dem Vaterland, wenn Du im trauten Kreise der Liebenden diesen nicht zu leisten vermagst, was hier so leicht und natürlich ist?

Wenn du hingegen im kleineren Kreise stufenmäßig deine Pflichten hast erfüllen lernen, so wirst du es auch immer mehr in jenen größeren vermögen, wirst du dir wie im väterlichen Hause so im weiten Leben Achtung und Liebe erwerben, wirst überall, wohin du kommst, Freunde finden, die sich dir anschließen, so dass sich vor deinen Augen die Fremde zum heimischen Herd umwandelt und es dir wohlergeht in jeglichem Lande, welches Gott dir bestimmt.«

Und ferner: wenn du gelernt hast, ehrfürchtig der Stimme der Eltern zu gehorchen, wirst du später auch derjenigen der Erkenntnis, des Gewissens und des Gesetzes nachkommen, da nicht mehr sorgsame Eltern dich bewachen, wirst im Stande sein, den Leidenschaften zu gebieten, deine Lüste zu zügeln, Körper und Geist in Maß und Zucht zu halten und wirst daher »lange leben.«

Das Verhältnis zu Lehrern und zum Greisenalter

Das Verhältnis zu Lehrern und zum Greisenalter.

Das Werk deiner körperlichen und geistigen Heranbildung, welches die Eltern begonnen haben, sehen Lehrer und Erzieher fort, als Helfer und Vertreter der Eltern.

Nicht Brot und Kleidung reichen sie dir, aber aus ihrer Seele bringen sie dem Herzen wohltätige und förderliche Nahrung und den Samen ihres Wissens streuen sie befruchtend auf den Boden des Geistes. Hier sprosst nun, was sie dir in Stunden der Weihe und liebreicher Führung gespendet, fröhlich weiter, bis es zu Früchten der Erkenntnis, der Bildung und der Religion herangereift, welche du zu deinem eignen Glücke genießest und zum Wohle Anderer verbreitest.

Wenn du dich recht besinnst, wie dir hier die Mahnungen des Erziehers zum Leitstern geworden fürs ganze Leben, wie dort die befriedigenden Aufschlüsse des Lehrers über die schwierigsten Fragen, welche dem kindlichen Geiste sich boten, die ergiebigste Quelle deiner Einsichten und späteren Leistungen bildete, so wirst du den Vermittlern deiner sittlichen und geistigen Erwerbungen die dankbare Verehrung und Anhänglichkeit nicht versagen.

Und wie die Jugend auf des Lehrers Erkenntnissen in immer wachsender Selbstständigkeit, zu der er selbst sie erzogen, fort baut, so steht sie überhaupt auf den Schultern derer, die ihr durch Taten und Leistungen vorangeschritten.

Blicke daher mit Scheu und Ehrfurcht auf das greise Haupt der Alten; denn es ist das Bild jenes vorangeschrittenen Geschlechtes, welchem wir die Weisheit und die Segnungen der Gegenwart verdanken und die Ehre und Anerkennung, welche du ihm darbringst, ist nur ein Zoll, welchen du erworbenem Verdienste entrichtest. Du ehrst dich also selbst am meisten, wenn du das Alter ehrst; du legst damit Zeugnis ab, dass dir in der eignen Seele das hohe Streben nach gleichem Verdienste um die Menschheit wach geworden und gibst Bürgschaft dafür, dass man auch von dir Schöpfungen der Wohltat und des Segens zu erwarten hat. Denn dasjenige, was wir an Andern liebend anerkennen und hochschätzen, schwebt uns selbst als Ziel des Ringens und der Nachachtung vor Augen, das suchen wir im eignen Leben zu verwirklichen und wo möglich gesteigerten Maßes zu betätigen.

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