Lina Morgenstern

Mein Gott! Du hast mich durch meine Eltern mit vielen Gütern gesegnet! Überfluss herrscht in unsrem Hause und alle Genüsse des Lebens sind mir geboten! Meine Vorzüge geben mir eine glückliche Stellung und meinen Wünschen ist leichte Erfüllung gewährt! Aber o Gott, ich fürchte mich zu überheben und von Hochhuth erfüllt zu werden, sehe ich herab auf die unzähligen Menschen, deren Los Armut und Erniedrigung ist. Meinem Reichtum wird gehuldigt und ich vermag nicht mehr den Freund von dem Schmeichler, das Recht von dem Unrecht zu unterscheiden! Darum sucht mein Herz Deinen Beistand o Gott! Gib mir Demut, gib mir Selbstkenntnis, lass mich das Wahre und Rechte erwählen, auf dass meine Glücksgüter nicht zum Verderben meiner Seele und meines Friedens werden, nicht zum Fluche, sondern zum Segen.

Lass mich immer einsehen, dass meine Besitztümer nur ein Mittel sind, mir des Lebens Annehmlichkeiten zu schaffen, nicht um nur selbstsüchtig in Hoffahrt, Übermut und Genusssucht zu schwelgen, sondern um zum allgemeinen Wohlsein beizutragen, gemeinnützig zu wirken und zu helfen, wo mein Beistand Not tut! — Lass mich gegen Ärmere und Hilfsbedürftige verfahren, als wären es meine Brüder, und gib mir ein Streben nach Veredelung dessen, was mir als göttlich von Dir verliehen ward, denn Reichtümer folgen nicht ins Grab, aber gute Taten haben ihren Segen auch nach meinem Tode; darum bitte ich Dich Gott um wahre Demut und die Einsicht, meine Reichtümer zum wahren Heil zu verwenden!