Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Am zweiten Abend

Die dunkle Nacht umfängt wieder unsren Erdkreis! In ihrem Schoß bringt sie unzählige Wohltaten, aber auch unzählige Gefahren.

Erquickenden Schlaf und liebliche Träume senkt sie auf den Glücklichen, den redlich Arbeitenden, den Friedfertigen und Gerechten nieder, qualvoll wird sie dem Unglücklichen, vor dessen Auge Gram und Sorge erscheinen, um den Schlaf zu verscheuchen, Schmerzen und Pein bringt sie dem Kranken, der vergebens nach Ruhe und Vergessen seiner Leiden lechzt! Schreckensvoll schleicht die Nacht dem reuigen Sünder hin, wenn seine böse Tat ihm naht, die er nicht mehr zurücknehmen und gutmachen kann und die nahende Vergeltung ihm droht! — Aber Du o Gott senkst Deinen Trost und Balsam in das Herz des Sorgenvollen und Kranken, Du gibst Frieden und Hoffnung dem Bereuenden und endlich finden auch sie den ersehnten Schlummer!

Am Entsetzlichsten ist die Nacht des Verbrechers, der die dunklen Wege hinschleicht um seiner Mitbrüder Leben und Güter zu rauben! O Gott ziehe ihren Fuß zurück von frevelnder Tat — und sende ihnen zur rechten Zeit die mahnende, göttliche Stimme des Gewissens! — Ich aber danke Dir, dass nicht Kummer und Sorge mich niederbeugen, nicht körperliche Leiden mich quälen, nicht geistiger Jammer um begangenen Frevel mich zur Verzweiflung führt — und dass ich von liebenden, braven Eltern geleitet nicht die Pfade des Verbrechens betreten habe!

Schütze mich auch ferner vor Gefahren! Lass mich siegreich aus jeder Versuchung hervorgehen und lass mich wie heute, so auch immer meine Lagerstätte mit freiem Herzen zu erquickendem Schlaf aussuchen! Amen.

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