Lina Morgenstern

Glaube, Andacht und Pflicht

Am Abend desselben Tages

Die Sonne ist niedergesunken um anderen Erdbewohnern zu leuchten!
Welch ein tröstlicher Gedanke!
Das Himmelslicht, das unsre Bahn erhellt, löscht nimmer aus, es verlässt uns nur, damit uns die Nacht zu stiller Ruh nach vollbrachter Arbeit einlade und wir Kraft finden am andern Morgen die Sonne neu zu grüßen!
Auch wenn die Nacht des Schmerzes unser Gemüt umdüstert, ist die Sonne göttlicher Gnade und Erlösung uns nicht fern!
Sie sendet selbst dem Unglücklichen der Sterne milden Schein, Kraft und Trost im Leiden. Während ich von der Tagesarbeit ausruhe, durchströmt mich inniges Dankgefühl, dass mir auch heute gegeben ward, was ich bedurfte. Doch wie habe ich mich all der Wolltaten dieses Tages wert gezeigt?
Mit guten Vorsäßen begann ich den Morgen, aber meine Kraft war schwächer als mein Wille. Viel wollte ich vollbringen, wenig habe ich getan!
Ich wollte alle die beglücken, an denen mein Herz mit Liebe hängt, doch ich versäumte Manches, was ihnen hätte Freude bereiten können. O Gott lass mich eingedenk sein, dass jeder Tag der letzte meines Lebens sein kann, damit ich es zum eignen Besten und zur Wohlfahrt Andrer nützen lerne und die mir verliehene Kraft auf rechte Art verwende!
Und wenn ich den Schlaf suche, lass mir die Ruhe labend sein in dem Bewusstsein, sie durch Tätigkeit und Pflichttreue verdient zu haben.

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